Diese Platte schließt mehrere Lücken. Sie verbindet Nacht und Tag genau an der Stelle, da die Unterschiede verwischen, man nicht mehr weiß, wie spät es ist. Es ist die Zeit, da die Müdigkeit übermächtig wird, die Zunge schwer ist und man Dinge sagt, die man bei Tageslicht prompt bereut. Die Musik auf dieser Platte ist gefährlich, denn sie könnte zu unüberlegten Handlungen anleiten. Sie bietet jede Menge Stoff für letzte Gespräche, und man stellt sich vor, wie Paare spät in der Nacht an der Bar sitzen und die Monologe dieser Lieder nachsprechen. Vielleicht singen sie die Worte sogar, es könnte dann sein wie in dem Kinofilm "Magnolia", wenn die Protagonisten plötzlich aus ihren Rollen treten und jeder für sich Aimee Manns bittere Ballade "Wise Up" anstimmt - über die Verhältnisse, die so sind, weil sie eben so sind.
Diese Musik ist deshalb so gefährlich, weil sie schön ist. Sie umhüllt die kahlen Worte mit Wärme: Streicher schmeicheln, Klavierakkorde rollen, der Baß tupft, ein Schlagzeugbesen wischt, und ein ums andere Mal finden sich Bläser zusammen, um schützend vor die Verse zu treten, die Nacktheit der Verzweiflung. In ihrer Schönheit suggerieren diese Klanggewänder, daß es irgendwann auch wieder aufwärtsgeht. Wenn solche Musik von Abgründen erzählt, kann es nicht ganz so schlimm sein zu stürzen. Und schließlich spielt diese Platte gleichsam im Vorübergehen mit dem Klischee des grüblerischen Nordmenschen, der aus Gewohnheitstristesse nachts in der Kneipe sitzt und schwere Gedanken denkt, bei denen gelegentlich auch die eine oder andere Trennung herausspringt. Warum er das Album "North" genannt habe, wurde Elvis Costello gefragt, der auf dem Cover mit wehenden Mantelschößen über eine leere, regennasse Straße eilt. "Dahin bin ich unterwegs", antwortete er.
Verwandlungskünstler
Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren zählt der Engländer zu den großen Verwandlungskünstlern des Pop. Kein anderer würde einem auf Anhieb einfallen, dessen OEuvre ähnlich weit gespannt ist. Bei ihm reicht es von spätem Punk über frühen Soul und Rock. Costello musizierte mit dem Gitarristen Bill Frisell flirrenden Country-Jazz, umkreiste im Duett mit der schwedischen Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter zeitlose Pop-Preziosen ("For the Stars") und vertiefte sich zusammen mit dem fast doppelt so alten Burt Bacharach in die Kunst des Evergreens. Die dabei entstandene Platte "Painted From Memory" steht dem neuen Album stilistisch am nächsten.
Doch diesmal hat Costello ganz allein am Lied gearbeitet. Es ist sein Meisterstück. Ein Zyklus aus elf Nachtstücken über die Liebe, von denen jedes für sich allein stehen könnte, doch erst zusammen bilden sie ein fulminantes Panorama der Lust am Leid. Musikalisch wurzeln alle im Swing, der größten Zeit für traurigste Lieder. Auf "North" wird das Spiel mit der Epoche zum ganz eigenen Stilprinzip.
Exzellente Mitspieler
Für die Aufnahme hat sich Costello exzellenter Mitspieler versichert. Das Gerüst bilden sein langjähriger Pianist Steve Nieve, der Schlagzeuger Peter Erskine und der Kontrabassist Mike Formanek. Unprätentiöse Beiträge liefern der Jazzsaxophonist Lee Konitz und das englische Brodsky Quartet, mit dem Costello vor zehn Jahren die wunderbaren "Juliet Letters" aufgenommen hat - eine Variation über Shakespeares "Romeo und Julia". Über allem tönt Costellos Gesangsstimme, die aus ihrer prinzipiellen Unvollkommenheit das Beste macht, was diese Lieder brauchen können: Zerbrochenheit wird Klang.
Nicht zuletzt ist das Album ein im Pop seltenes Plädoyer fürs Musizieren. In jedem Augenblick wird deutlich, daß die Musiker einander bei der Aufnahme zugehört haben. Ihre Konzentration überträgt sich ganz selbstverständlich auf den Zuhörer. "North" ist somit nichts weniger als eine Hörschule über die Musik. Und über die Liebe.
Elvis Costello, North. Deutsche Grammophon 980 916-5 (Universal)
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.10.2003, Nr. 248 / Seite 43
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