Berliner Zeitung, August 16, 1995

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Elvis Costello sieht in seinen Songs die Entwicklung in der Welt skeptisch: Von Zynismus und moralischer Trägheit


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   Holger Erdmann

Hornbrille und Anzug von der Stange sind nicht gerade die typischen Utensilien eines "Rockstars". Für den Engländer Elvis Costello hingegen sind sie zum Markenzeichen geworden, genauso wie sein böser Sarkasmus. Nach seinem Ausflug in klassische Musikgefilde auf seinem Album "The Juliet Letters" kehrte Costello mit dem Album "Brutal Youth" sehr erfolgreich zu der brisanten Mixtur aus Rhythm & Blues, Soul und New Wave zurück, die ihn schon Ende der 70er berühmt machte.

Unser Mitarbeiter Holger Erdmann sprach mit Elvis Costello.

Berliner Zeitung: Nach acht Jahren spielen Sie wieder mit Ihrer alten Band, den Attractions, zusammen. Warum?

Elvis Costello: Es sind die Leute, mit denen ich damals anfing. Deshalb denken viele, daß das etwas zu bedeuten hat. Aber es war einfach nur die richtige Konstellation.

Und wie wird es mit den Attractions weitergehen?

Wir waren auf Tour, wenn wir danach wieder zusammen ins Studio gehen, um so besser. Wenn nicht, auch nicht weiter schlimm, denn mir gefällt diese Scheibe sehr gut. Ich war auch zufrieden mit der letzten. Und wenn dies die letzte sein sollte, dann ist es ein wirklich gutes Ende.

Wofür steht der Titel "Brutal Youth" ("Brutale Jugend")?

Der Titel stammt aus einem Song, ist nicht ohne Ironie. Denn die Jugend wird als eine Zeit betrachtet, die glücklich und ohne große Probleme verläuft. Dabei wird sie immer mehr eine Zeit des erbitterten Kampfes.

Und wie war es in Ihrer Jugendzeit? Gab es damals keine Gewalt?

Als ich Teenager war - so um 1969 herum - gab es an meiner Schule eine richtige Gang. Das war auch eine Form organisierter Gewalt. Das heute Erschreckende ist ja die Wahllosigkeit, mit der junge Leute Gewalt anwenden. Andererseits ist es nicht weniger schrecklich, wenn man weiß, warum man gequält wird.

Ein Kritiker befand, daß Sie wie ein Bücherwurm aussehen. Kümmern Sie sich um solche Kommentare?

Die meisten Menschen setzen wohl ein bestimmtes Aussehen mit dem Charakter eines Menschen gleich. Dabei verändert man sich doch ständig - das ganze Leben lang. Als ich mit der Musik anfing, war ich sicher kein größerer Bücherwurm als zu der Zeit, als ich mir die Haare lang wachsen ließ. Lange Haare bedeuten gar nichts - außer der Tatsache, daß ich mir die Haare nicht schneiden ließ. Die Leute hatten ein bestimmtes Bild von mir und nahmen mir übel, daß ich auf einmal nicht mehr ihren Vorstellungen entsprach. Ich kümmere mich nicht darum. Es ist wirklich unwichtig.

Auf dem Album "Juliet Letters" haben Sie mit klassischen Einflüssen experimentiert. Auch das war etwas, was kaum jemand erwartet hätte Offensichtlich hat das einige Leute geschockt.

Andererseits war es das erste Album mit meinem Namen drauf, das sich andere Leute gekauft haben - vielleicht, weil ihnen meine anderen Platten zu laut und lärmig waren. Meine Stimme klingt sehr schroff, wenn ich Songs ohne elektrische Instrumente aufnehme. Das ist nicht jedermanns Sache. Aber ich versuche auch nicht, jedem zu gefallen. Ich singe für alle, die mir unvoreingenommen zuhören wollen. Mit "Juliet Letters" stieß ich auf ebensoviel Engstirnigkeit, wie mit jeder Rock-'n'-Roll-Platte, die ich bisher gemacht habe.

Sie gelten als Zyniker schlechthin. Sehen Sie sich auch so?

Nein, ich glaube, daß man Hoffnung haben muß. Wirkliche Zyniker haben keine Hoffnung. Ich denke aber, daß man skeptisch sein muß. Es ist leider nicht so, daß wir alle bloß fest daran glauben und die Daumen drücken müssen, um den Krieg in Bosnien zu stoppen. Gerade in Zeiten der Rezession scheinen viele Menschen anfällig für rechte Parolen zu sein. Das kann sehr gefährlich werden. Ich weiß keine Lösungen für die großen Probleme der Welt. Und meine Songs können sowieso nur den eigenen Standpunkt zeigen. Vielleicht können die Leute daraus ein bißchen Mut und Trost schöpfen. Oder darüber lachen.

Sie haben sich in Ihren Songs auch immer mit der Situation in Ihrer Heimat auseinandergesetzt. Wie beurteilen Sie die Situation in England?

Es hat sich in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren eine unglaubliche moralische Trägheit in England breitgemacht. Die wird dann auch noch als Freiheit - als größere Freiheit des Individuums - bezeichnet. Aber in Wirklichkeit wird damit vertuscht, welch großer Teil der Ressourcen Englands sich in den Händen von immer weniger Leuten befindet. Mit der Privatisierung wurde die Illusion erzeugt, daß man durch den Besitz von Kleinaktien einen kleinen Anteil an der Macht hätte. Dabei hatten die Leute viel mehr Macht, als diese Betriebe noch in staatlicher Hand waren. Aber das haben die Leute nicht verstanden. Im Gegenteil!

In dem Song "Tramp The Dirt Down" haben Sie Margret Thatcher aufs Korn genommen. Bei "20 Prozent Amnesia" vom neuen Album geht's um den Gedächtnisschwund u. a. bei Politikern. Wollen Sie damit provozieren?

Nicht jemanden persönlich. Ich glaube auch nicht, daß Mrs. Thatcher meine Songs hört, denn es sind doch nur Popsongs. Ich will einfach eine bestimmte Meinung vertreten, mit der die Leute vielleicht übereinstimmen. Problemlösungen habe ich, wie gesagt, nicht. Ich versuche bloß, die Gefühle einzufangen, von denen ich denke, daß sie gegenwärtig besonders stark verbreitet sind.


Tags: The Juliet LettersBrutal YouthThe AttractionsTramp The Dirt Down20% Amnesia

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Berliner Zeitung, August 16, 1995


Holger Erdmann interviews Elvis following the release of Brutal Youth .


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