Die Welt, October 19, 2018

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Pop
NEUES ALBUM „LOOK NOW

Der erste echte Costello seit zehn Jahren


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Richard Kämmerlings

Die Bitterkeit von verbranntem Zucker: Elvis Costello meldet sich nach langer Pause mit einem großartigen Album zurück. Burt Bacharach und Carole King sind auch mit dabei. Eine Liebeserklärung.

Manchmal können Popkritiken eine lebenslange Wirkung haben. Es war 1983, als ich eine Besprechung im damals unter Gitarrenfreaks sehr beliebten Musikmagazin „Fachblatt“ las; es ging um ein Konzert der damals stilbildenden „Rockpalast“-Reihe in der Essener Grugahalle, bei dem Bryan Adams und Elvis Costello auftraten.

Den Namen des Kritikers habe ich längst vergessen, nicht aber seine Formulierung, nach einem „besinnungslosen Abräumer“ wie Adams habe die komplexe Musik Costellos beim Publikum praktisch keine Chance mehr gehabt.

Ich war damals 14, hörte erst seit dem legendären Popsommer 1982 bewusst aktuelle Musik, und Bryan Adams war damals ein echter Geheimtipp. Aber „besinnungsloser Abräumer“, das saß, und seither hörte ich „Cuts Like a Knife“ oder später „Summer of ’69“ stets mit einem leicht schlechten Gewissen. Und seither weiß ich, dass auch im Pop E- von U-Musik unterschieden werden kann und muss. Costello wurde zum Inbegriff ernster Popmusik.

Tränen auf Knopfdruck

So ein Album wie „Punch the Clock“ von Elvis Costello and the Attractions oder wie das im Jahr zuvor erschienene „Imperial Bedroom“ hatte ich noch nie gehört, und so einen Sänger wie Costello auch noch nicht. Eine Stimme, die sich wie auf Knopfdruck vor Freude überschlagen oder vor Schmerz brechen und in Tränen ersticken konnte, die wie bei einer E-Gitarre über einen eingebauten Tremolohebel zu verfügen schien.

Und Songs, in denen in jedem Augenblick etwas völlig Unerwartetes geschehen konnte, deren Akkordfolgen und Arrangements nie so weitergingen wie man erwartete (jedenfalls, wenn man bis dahin vor allem besinnungslose Abräumer oder Mark Knopflers Dire Straits gehört hatte).

Dieser Costello-Effekt, das immer wieder Überrascht-, ja Perplexsein, hat sich über die Jahrzehnte nicht abgenutzt. Klar, es gibt in diesem kaum komplett zu überschauenden Gesamtwerk auch schwächere Phasen und misslungene Projekte. Aber immer wieder Alben, die in einer knappen Stunde ein gewaltiges Spektrum von Gefühlen und Stimmungen in allen Nuancierungen abschritten.

Nach dem erschöpften und überambitionierten „Blood and Chocolate“ (1986) kam das ideensprühende „Spike“; auf den eher nervigen Ausflug in die „echte“ Klassik mit „The Juliet Letters“ Anfang der 90er folgte ein Meisterwerk wie „Brutal Youth“.

Und immer wieder fand Costello zu Funken sprühenden Kollaborationen, so mit Burt Bacharach auf „Painted from Memory“ (1998) oder Allan Toussaint auf „The River in Reverse“ (2006). Zuletzt kam es vor fünf Jahren bei „Wise Up Ghost“ zu einem R&B-Gipfeltreffen mit The Roots.

Prominente Co-Autoren

Auf dem neuen Album „Look Now“, dem ersten echten Costello seit zehn Jahren, ist Bacharach als Co-Autor und Gastpianist dabei, auf den Balladen „Don’t Look Now“ und „Photographs Can Lie“. Vor allem letztere klingt ganz nach dem, was zu erwarten ist, wenn zwei Meistersongwriter sich gemeinsam die Zeit vertreiben: Sensationen im beiläufigsten Understatement-Sound. Dabei wird hier mit Ewigkeitstinte ins Kunstliederbuch des Pop geschrieben.

Mit etwas mehr Tusch kommt das Gastspiel mit Carole King daher (ja genau, der von „You’ve Got a Friend“!): „Burnt Sugar Is So Bitter“ ist großartigster Costello-Soul mit Bläsern und Seventies-Vocals. Verbrannter Zucker, das ist überhaupt ein gutes Bild für Costellos Mischung aus Melodiösität und Widerspenstigkeit.

Stilistisch ist das Album nicht allzu kohärent, die Imposters sorgen jedoch für den typischen Costello-Sound aus präziser und präsenter Rhythmusgruppe mit prunkendem Piano von Steve Nieve. Der Eröffnungssong „Under Lime“ könnte so auch auf „Punch the Clock“ gehören, inklusive der scharfen Bläser- und Vocalsätze. Es liegt eine ähnliche, latent herbstliche Atmosphäre von Scheitern und Lebenslüge über den Songs.

Ein klassischer Hit im Attractions-Style der 80er ist auch „Unwanted Number“; für solche Songs hat sich die lange Pause mehr als gelohnt. Stimmlich ist Costello ohnehin absolut auf der Höhe, und das buchstäblich, etwa im letzten Song „He’s Given Me Things“, in dem er sich alles abverlangt, mit und ohne Tremolohebel.

Ein Abschiedswerk? Im Sommer hat Costello seine Krebserkrankung öffentlich gemacht und seine Tour abbrechen müssen; er soll auf dem Weg der Erholung sein. Lebensgefährlich war es aber trotzdem. Man will nicht zu viel in die neuen Stücke hineininterpretieren, zumal jedes seiner Alben seit etwa „Almost Blue“ von 1981 wie ein Abschiedswerk klingt.

Dennoch: „He’s given me things/ You couldn’t guess at/ I don’t mean jewels/ Although they were fine/ One way to depart/ One way to enter“ oder „Why was I chosen?/You’ll never know“ – das lässt sich schon sehr schwer anders denn als eine Lebensbilanz lesen, hoffentlich nur eine vorläufige. Gegen Costellos vitales Genie würde auch der Sensenmann nur wie ein besinnungsloser Abräumer wirken.

© Axel Springer SE.

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Die Welt, October 19, 2018


Richard Kämmerlings reviews Look Now.

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Tränen und Tremolo: Elvis Costello machte im Sommer seine Krebserkrankung öffentlich. Ist es sein letztes Album?. Photo credit: James O'Mara


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