Rolling Stone Germany, March 2006: Difference between revisions

From The Elvis Costello Wiki
Jump to navigationJump to search
(formatting)
(fix scan errors and add hyperlinks)
Line 11: Line 11:
''Scan errors uncorrected...
''Scan errors uncorrected...
{{Bibliography text}}
{{Bibliography text}}
Piety Street Recording Studio, New Orleans, Bezirk Bywater, nahe dem Mississippi. Allen Toussaint, legendärer Produzent und Song-writer, steht vor einem Mikrophon und wartet auf seinen Einsatz. Der 68jährige ist makellos gekleidet, echt Southern comfort - graues Anzugjackett, brau-ne Stoffhose, cremefarbenes Hemd, perfekt gekno-tete karamellbraune Krawatte und vorne offene San-dalen. Aber als das Band läuft und der Funk zu groo-ven beginnt, spürt man deutlich die Demut in seiner Stimme: „What happened to the Liberty Bell/ I heard so much about/ Did it really ding dong/ lt must have dinged wrong/ lt didn't ding long." Sechs Monate nach dem Hurrikan Katrina liegt Toussaints Heimat-stadt immer noch zu großen Teilen in Trümmern, ein Opfer geborstener Dämme, chaotischer Hilfsmaß-nahmen. Schmerz und Angst färben jeden seiner sei-digen Töne.  
Piety Street Recording Studio, New Orleans, Bezirk Bywater, nahe dem Mississippi. Allen Toussaint, legendärer Produzent und Song-writer, steht vor einem Mikrophon und wartet auf seinen Einsatz. Der 68jährige ist makellos gekleidet, echt Southern comfort - graues Anzugjackett, braune Stoffhose, cremefarbenes Hemd, perfekt geknotete karamellbraune Krawatte und vorne offene San-dalen. Aber als das Band läuft und der Funk zu grooven beginnt, spürt man deutlich die Demut in seiner Stimme: „What happened to the Liberty Bell/ I heard so much about/ Did it really ding dong/ lt must have dinged wrong/ lt didn't ding long." Sechs Monate nach dem Hurrikan Katrina liegt Toussaints Heimat-stadt immer noch zu großen Teilen in Trümmern, ein Opfer geborstener Dämme, chaotischer Hilfsmaß-nahmen. Schmerz und Angst färben jeden seiner sei-digen Töne.  


Im Regieraum nebenan lauscht Elvis Costello und schüttelt bewundernd den Kopf. Toussaint singt Over-dubs für „Who's Gonna Help Brother Get Further", ein rhythmisches Bittgesuch, das er ursprünglich 1970 für Lee Dorsey geschrieben und produziert hatte. Und einer von 17 Songs, die Toussaint und Costello nun für ''The River In Reverse'' aufgenommen haben (erscheint im Mai auf Verve Records). Mit neuen Songs wie dem Titeltrack, „Broken Promiseland" oder „Ascension Day", Coverversionen von Toussaint-Klassikern wie „Freedom For The Stallion", „On Your Way Down" oder eben „Who's Gonna Help..." - und in allen vibriert die Emotion des Augenzeugen. In einer Aufnahmepause betont Toussaint höflich, dies sei „keine Mitleidsplatte. Die Songs können im Krieg und im Frieden leben, überall und jederzeit. Diese Platte ist viel wichtiger und viel größer als Katrina".  
Im Regieraum nebenan lauscht Elvis Costello und schüttelt bewundernd den Kopf. Toussaint singt Over-dubs für „[[Who's Gonna Help Brother Get Further?]]", ein rhythmisches Bittgesuch, das er ursprünglich 1970 für Lee Dorsey geschrieben und produziert hatte. Und einer von 17 Songs, die Toussaint und Costello nun für "[[The River In Reverse]]" aufgenommen haben (erscheint im Mai auf Verve Records). Mit neuen Songs wie dem Titeltrack, „[[Broken Promise Land|Broken Promiseland]]" oder „[[Ascension Day]]", Coverversionen von Toussaint-Klassikern wie „[[Freedom For The Stallion]]", „[[On Your Way Down]]" oder eben „Who's Gonna Help..." - und in allen vibriert die Emotion des Augenzeugen. In einer Aufnahmepause betont Toussaint höflich, dies sei „keine Mitleidsplatte. Die Songs können im Krieg und im Frieden leben, überall und jederzeit. Diese Platte ist viel wichtiger und viel größer als Katrina".  


Costello stimmt zu. „Es war die Chance, aus etwas sehr Entmutigendem etwas Positives zu machen", sagt er über das Album. Der Produzent ist Joe Henry, es spielen Costellos Band, The Imposters, und einige lokale Musiker aus Toussaints Truppe. „Und die Plat-te blickt nach vorn. Sie steht für die hiesige Kultur. Und Allen gehört zu den wichtigsten Personen in dieser Kultur." Costello und Toussaints Sessions im Piety-Studio Anfang Dezember sind ermutigende Lebenszeichen in einer zerstörten Stadt. Toussaints eigenes Haus in Gentilly wurde überflutet, sein per-sönliches Archiv, Bilanz eines Lebens, zerstört.  
Costello stimmt zu. „Es war die Chance, aus etwas sehr Entmutigendem etwas Positives zu machen", sagt er über das Album. Der Produzent ist [[Joe Henry]], es spielen Costellos Band, [[The Imposters]], und einige lokale Musiker aus Toussaints Truppe. „Und die Plat-te blickt nach vorn. Sie steht für die hiesige Kultur. Und Allen gehört zu den wichtigsten Personen in dieser Kultur." Costello und Toussaints Sessions im Piety-Studio Anfang Dezember sind ermutigende Lebenszeichen in einer zerstörten Stadt. Toussaints eigenes Haus in Gentilly wurde überflutet, sein persönliches Archiv, Bilanz eines Lebens, zerstört.  


„An einem der Tage hier hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Allens Bläser so lange warten ließ", sagt Produzent Henry. „Ich sagte: ‚Wollt ihr vielleicht rausgehen und später wiederkommen?' Sie sagten: ‚Wir wollen gar nicht da raus. Wir wissen ja eh, wie's aussieht.'''
„An einem der Tage hier hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Allens Bläser so lange warten ließ", sagt Produzent Henry. „Ich sagte: ‚Wollt ihr vielleicht rausgehen und später wiederkommen?' Sie sagten: ‚Wir wollen gar nicht da raus. Wir wissen ja eh, wie's aussieht.'''


Toussaint floh nach dem Sturm aus der Stadt nach New York, wo er Costello - mit dem er schon auf des-sen 89er-Album ''Spike'' gearbeitet hatte - bei diver-sen Katrina-Benefizkonzerten traf. Sie spielten oft Toussaint-Songs zusammen. „Früher war es üblich, ,Songbook-Alben` zu machen - bevor die Rock'n'Roll-Sänger selber Songs schrieben", erklärt Costello. „Ich dachte: Vielleicht ist es Zeit für ein Allen-Toussaint-Songbook-Album. Und vielleicht können wir das zu-sammenmachen." Toussaint sagte nicht nur zu, er schrieb auch fünf Songs zu-sammen mit Costello. „Im erzwungenen Halb-Ruhestand so eine Einladung zu kriegen, war eine wunderbare Chance", konstatiert er mit einem schlauen Lä-cheln. Costello, sagt er, sei unermüd-lich gewesen. „Er legte beim Schreiben Gesangsperformances hin, wie man sie sonst nur im Studio abliefert."  
Toussaint floh nach dem Sturm aus der Stadt nach New York, wo er Costello - mit dem er schon auf des-sen 89er-Album “Spike“ gearbeitet hatte - bei diversen Katrina-Benefizkonzerten traf. Sie spielten oft Toussaint-Songs zusammen. „Früher war es üblich, ,Songbook-Alben` zu machen - bevor die Rock'n'Roll-Sänger selber Songs schrieben", erklärt Costello. „Ich dachte: Vielleicht ist es Zeit für ein Allen-Toussaint-Songbook-Album. Und vielleicht können wir das zusammenmachen." Toussaint sagte nicht nur zu, er schrieb auch fünf Songs zusammen mit Costello. „Im erzwungenen Halb-Ruhestand so eine Einladung zu kriegen, war eine wunderbare Chance", konstatiert er mit einem schlauen Lächeln. Costello, sagt er, sei unermüdlich gewesen. „Er legte beim Schreiben Gesangsperformances hin, wie man sie sonst nur im Studio abliefert."  


Am ersten Aufnahmetag in L.A. hat-ten sie schon nach 15 Minuten die Ma-stertakes von „Greatest Love" und „Nea-rer To You" im Kasten. Nun aber, im Pi-ety, fasziniert Toussaints Ohr für Details, sein Instinkt für beseelte Perfektion. Derselbe Instinkt, der schon die Hits prägte, die er in den Sechzigern und Siebzigern für Irma Thomas, Ernie K-Doe, die Meters und viele andere schrieb und pro-duzierte.  
Am ersten Aufnahmetag in L.A. hat-ten sie schon nach 15 Minuten die Mastertakes von „Greatest Love" und „Nearer To You" im Kasten. Nun aber, im Piety, fasziniert Toussaints Ohr für Details, sein Instinkt für beseelte Perfektion. Derselbe Instinkt, der schon die Hits prägte, die er in den Sechzigern und Siebzigern für [[Irma Thomas]], Ernie K-Doe, die Meters und viele andere schrieb und produzierte.  


Lebendig. Kein Wort beschreibt die Musik, die Co-stello und Toussaint gemacht haben, besser - vor al-lem während ihrer Woche in dieser Stadt, die sich nur langsam von ihrem Fast-Exitus erholt. Am sel-ben Abend, an dem sie „Who's Gonna Help Brother Get Further" fertigstellen, beschäftigen sie sich auch mit der düsteren Costello-Ballade „The River In Re-verse". Costello schrieb sie wenige Wochen nach der Überschwemmung. Seine Liebe zu New Orleans und seine Wut über den Verrat an der Stadt spre-chen deutlich aus dem Songtext und den Vocals: „There must be something better than this/ I don't see how it can get much worse/ What do we have to do to send/ The river in reverse?"  
Lebendig. Kein Wort beschreibt die Musik, die Costello und Toussaint gemacht haben, besser - vor allem während ihrer Woche in dieser Stadt, die sich nur langsam von ihrem Fast-Exitus erholt. Am selben Abend, an dem sie „Who's Gonna Help Brother Get Further" fertigstellen, beschäftigen sie sich auch mit der düsteren Costello-Ballade „The River In Reverse". Costello schrieb sie wenige Wochen nach der Überschwemmung. Seine Liebe zu New Orleans und seine Wut über den Verrat an der Stadt sprechen deutlich aus dem Songtext und den Vocals: „There must be something better than this/ I don't see how it can get much worse/ What do we have to do to send/ The river in reverse?"  


Es arbeite sich nicht leicht inmitten von so viel Ver-lust, räumt Costello ein. „Man kommt sich ein biß-chen frivol vor." Es ist dennoch heilsam - man sieht es in Allen Toussaints Lächeln, als er der Dringlichkeit in Costellos Gesang lauscht. Er hat fürs erste außer dieser Platte nicht mehr viel, und deshalb ist er dankbar. „Im Moment habe ich keine Vergangen-heit und keine Zukunft", sagt er. „Ich wache morgens auf, um das hier zu machen. Dies ist alles, was ich bin."  
Es arbeite sich nicht leicht inmitten von so viel Ver-lust, räumt Costello ein. „Man kommt sich ein bißchen frivol vor." Es ist dennoch heilsam - man sieht es in Allen Toussaints Lächeln, als er der Dringlichkeit in Costellos Gesang lauscht. Er hat fürs erste außer dieser Platte nicht mehr viel, und deshalb ist er dankbar. „Im Moment habe ich keine Vergangen-heit und keine Zukunft", sagt er. „Ich wache morgens auf, um das hier zu machen. Dies ist alles, was ich bin."  


{{cx}}
{{cx}}

Revision as of 06:44, 26 July 2014

... Bibliography ...
727677787980818283
848586878889909192
939495969798990001
020304050607080910
111213141516171819
202122232425 26 27 28


Rolling Stone Germany

Rolling Stone

-

Balsam für Big Easy

Auch wenn die Umstände desolat sind:
Das Elend von New Orleans bringt die Musiker zusammen.
Elvis Costello und Allen Toussaint geben ein Beispiel.

David Fricke

Scan errors uncorrected...

Piety Street Recording Studio, New Orleans, Bezirk Bywater, nahe dem Mississippi. Allen Toussaint, legendärer Produzent und Song-writer, steht vor einem Mikrophon und wartet auf seinen Einsatz. Der 68jährige ist makellos gekleidet, echt Southern comfort - graues Anzugjackett, braune Stoffhose, cremefarbenes Hemd, perfekt geknotete karamellbraune Krawatte und vorne offene San-dalen. Aber als das Band läuft und der Funk zu grooven beginnt, spürt man deutlich die Demut in seiner Stimme: „What happened to the Liberty Bell/ I heard so much about/ Did it really ding dong/ lt must have dinged wrong/ lt didn't ding long." Sechs Monate nach dem Hurrikan Katrina liegt Toussaints Heimat-stadt immer noch zu großen Teilen in Trümmern, ein Opfer geborstener Dämme, chaotischer Hilfsmaß-nahmen. Schmerz und Angst färben jeden seiner sei-digen Töne.

Im Regieraum nebenan lauscht Elvis Costello und schüttelt bewundernd den Kopf. Toussaint singt Over-dubs für „Who's Gonna Help Brother Get Further?", ein rhythmisches Bittgesuch, das er ursprünglich 1970 für Lee Dorsey geschrieben und produziert hatte. Und einer von 17 Songs, die Toussaint und Costello nun für "The River In Reverse" aufgenommen haben (erscheint im Mai auf Verve Records). Mit neuen Songs wie dem Titeltrack, „Broken Promiseland" oder „Ascension Day", Coverversionen von Toussaint-Klassikern wie „Freedom For The Stallion", „On Your Way Down" oder eben „Who's Gonna Help..." - und in allen vibriert die Emotion des Augenzeugen. In einer Aufnahmepause betont Toussaint höflich, dies sei „keine Mitleidsplatte. Die Songs können im Krieg und im Frieden leben, überall und jederzeit. Diese Platte ist viel wichtiger und viel größer als Katrina".

Costello stimmt zu. „Es war die Chance, aus etwas sehr Entmutigendem etwas Positives zu machen", sagt er über das Album. Der Produzent ist Joe Henry, es spielen Costellos Band, The Imposters, und einige lokale Musiker aus Toussaints Truppe. „Und die Plat-te blickt nach vorn. Sie steht für die hiesige Kultur. Und Allen gehört zu den wichtigsten Personen in dieser Kultur." Costello und Toussaints Sessions im Piety-Studio Anfang Dezember sind ermutigende Lebenszeichen in einer zerstörten Stadt. Toussaints eigenes Haus in Gentilly wurde überflutet, sein persönliches Archiv, Bilanz eines Lebens, zerstört.

„An einem der Tage hier hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Allens Bläser so lange warten ließ", sagt Produzent Henry. „Ich sagte: ‚Wollt ihr vielleicht rausgehen und später wiederkommen?' Sie sagten: ‚Wir wollen gar nicht da raus. Wir wissen ja eh, wie's aussieht.

Toussaint floh nach dem Sturm aus der Stadt nach New York, wo er Costello - mit dem er schon auf des-sen 89er-Album “Spike“ gearbeitet hatte - bei diversen Katrina-Benefizkonzerten traf. Sie spielten oft Toussaint-Songs zusammen. „Früher war es üblich, ,Songbook-Alben` zu machen - bevor die Rock'n'Roll-Sänger selber Songs schrieben", erklärt Costello. „Ich dachte: Vielleicht ist es Zeit für ein Allen-Toussaint-Songbook-Album. Und vielleicht können wir das zusammenmachen." Toussaint sagte nicht nur zu, er schrieb auch fünf Songs zusammen mit Costello. „Im erzwungenen Halb-Ruhestand so eine Einladung zu kriegen, war eine wunderbare Chance", konstatiert er mit einem schlauen Lächeln. Costello, sagt er, sei unermüdlich gewesen. „Er legte beim Schreiben Gesangsperformances hin, wie man sie sonst nur im Studio abliefert."

Am ersten Aufnahmetag in L.A. hat-ten sie schon nach 15 Minuten die Mastertakes von „Greatest Love" und „Nearer To You" im Kasten. Nun aber, im Piety, fasziniert Toussaints Ohr für Details, sein Instinkt für beseelte Perfektion. Derselbe Instinkt, der schon die Hits prägte, die er in den Sechzigern und Siebzigern für Irma Thomas, Ernie K-Doe, die Meters und viele andere schrieb und produzierte.

Lebendig. Kein Wort beschreibt die Musik, die Costello und Toussaint gemacht haben, besser - vor allem während ihrer Woche in dieser Stadt, die sich nur langsam von ihrem Fast-Exitus erholt. Am selben Abend, an dem sie „Who's Gonna Help Brother Get Further" fertigstellen, beschäftigen sie sich auch mit der düsteren Costello-Ballade „The River In Reverse". Costello schrieb sie wenige Wochen nach der Überschwemmung. Seine Liebe zu New Orleans und seine Wut über den Verrat an der Stadt sprechen deutlich aus dem Songtext und den Vocals: „There must be something better than this/ I don't see how it can get much worse/ What do we have to do to send/ The river in reverse?"

Es arbeite sich nicht leicht inmitten von so viel Ver-lust, räumt Costello ein. „Man kommt sich ein bißchen frivol vor." Es ist dennoch heilsam - man sieht es in Allen Toussaints Lächeln, als er der Dringlichkeit in Costellos Gesang lauscht. Er hat fürs erste außer dieser Platte nicht mehr viel, und deshalb ist er dankbar. „Im Moment habe ich keine Vergangen-heit und keine Zukunft", sagt er. „Ich wache morgens auf, um das hier zu machen. Dies ist alles, was ich bin."

-

Rolling Stone Germany, March 2006


David Fricke profiles Elvis Costello and Allen Toussaint.

Images

2006-03-00 Rolling Stone Germany page 41 clipping 01.jpg
Clipping.

2006-03-00 Rolling Stone Germany photo 01.jpg
Photo.

2006-03-00 Rolling Stone Germany cover.jpg
Cover.

-



Back to top

External links