Neue Zürcher Zeitung, May 24, 1993

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Schwierige Begegnungen

Annäherungsversuche von Klassik und Pop: Costello, Balanescu Quartet

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   Markus Ganz

Die Beziehungen zwischen klassischer und populärer Musik sind keine einfachen. Mit Argwohn und vielerlei pauschalen Vorurteilen wird von der jeweils "anderen" Musikart gesprochen. Trotzdem hat sich schon mancher Popstar, geplagt von den einschränkend starren Songformen (und wohl oft auch von Minderwertigkeitsgefühlen), an die klassische Musik gewagt. Mancher Popmusiker betrachtet sie im geheimen als die "wahre" Musikform, die - im Gegensatz zum Pop - alle Trends überlebe. Abgesehen von der blossen Orchestrierung mit Streicherklängen, die seit den "Beatles" gang und gäbe ist, haben sich allerdings nur die wenigsten auch wirklich auf die entsprechenden Kompositionstechniken eingelassen, geschweige denn eine Verschmelzung von Klassik und Pop versucht. Kein Wunder: Solch ein künstlerischer Seitensprung birgt beträchtliche Risiken in sich, wie selbst die Klassikprojekte von Grössen wie David Byrne oder Paul McCartney, von der Kritik einmütig als missglückt eingestuft, belegen.

Nur ansatzweise gelungen ist auch das neueste Werk von Elvis Costello, immerhin einem der profiliertesten englischen Songschreiber. Auf dem Album "The Juliet Letters"1 versucht er mit dem renommierten Brodsky Quartet die Verschmelzung von Songform und Streichquartett, wobei vor allem der Einbezug von Gesang in eine eigentlich instrumentale Form aussergewöhnlich wirkt. Ausgangspunkt dieses Konzertalbums ist eine Zeitungsnotiz, wonach ein Veroneser Akademiker jahrelang Briefe beantwortete, die an die legendäre "Julia" gerichtet waren. Elvis Costello und zum Teil auch Mitglieder des Quartetts haben sich ausgedacht, wie diese Briefe gelautet haben könnten. Daraus ist eine Sammlung von skurrilen Texten entstanden. Ihre musikalische Umsetzung, die Costello in enger Zusammenarbeit mit dem Brodsky Quartet schuf, erscheint passend. Die Vermischung der Strukturen von Popsong und Streichquartett hat spannende Passagen zutage gefordert, wobei der "klassische" Teil dominiert, indem weder Gitarre noch Schlagzeug zum Einsatz kommen.

Das Quartett überzeugt mit einer brillanten, fast theatralischen Interpretation, gleitet ausserdem manchmal in korsettartigen Romantizismus ab. Elvis Costello hingegen singt seltsam gehemmt und manieriert, seine oft krächzende Stimme vermag über weite Strecken mit der Streichmusik kaum zu kontrastieren; sie irritiert nur. So hinterlässt das Album, so kunstvoll und ideenreich es auch angelegt sein mag, insgesamt einen seltsamen Nachgeschmack. Ironischerweise wirken die simplen Songs, die Costello für das neue Album der Vamp-Sängerin Wendy James2 geschrieben hat, einiges packender. Im Gegensatz zum Klassikprojekt kommen hier auch die ironischen Spitzen, die Costellos Popplatten so interessant machen, besser zum Ausdruck.

Das Balanescu Quartet möchte dem breiten Publikum einen unbelasteten Zugang zur "zeitgenössischen" Musik schaffen: weg vom Zelebrieren zum Kommunizieren, weshalb es auch gern im Vorprogramm von Popgruppen auftritt. Diese Streicherformation hält sich, ähnlich wie das Kronos Quartet, strikt an die Kompositionen und legt volles Gewicht auf deren interpretatorische Auslotung durch ein anderes Instrumentarium. Auf dem Album Possessed3 setzen - nebst Stücken von Alexander Balanescu und "Hanging Upside Down" von David Byrne - die fünf Songs der deutschen Pioniergruppe Kraftwerk den Schwerpunkt. Eine grosse Herausforderung, wurden längst zu Klassikern gewordene Stücke wie "Autobahn", "Roboter" oder "Computerliebe" doch ursprünglich ausschliesslich mit elektronischen Instrumenten eingespielt. Statt diese einfach konstruierten, aber zeitlos ausdrucksstarken Stimmungsbilder von Industrieromantik kunstgerecht zu arrangieren, schält das Quartett mit neuen Klängen neue Qualitäten der Techno-Pop-Songs heraus, ohne ihren Charakter zu verändern. Die Streichinstrumente dienen nicht der Versüssung und damit Entschärfung, sondern stellen die Songs mit einer spitzen Artikulation in ein spannendes neues Licht.

  1. Elvis Costello and the Brodsky Quartet: The Juliet Letters. Warner Bros. 9362-45 180
  2. Wendy James: Now Ain't The Time For Your Tears. MCA/BMG 10 800.
  3. The Balanescu Quartet: Possessed. Mute/Phonag Int 846-887.


Tags: The BeatlesDavid ByrnePaul McCartneyThe Juliet LettersThe Brodsky QuartetWendy JamesNow Ain't The Time For Your Tears

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Neue Zürcher Zeitung, May 24, 1993


Markus Ganz reviews The Juliet Letters and Wendy James: Now Ain't The Time For Your Tears.

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